Traditionelle Pflanzenheilkunde
Jahrhundertelang bildete die Phytotherapie, das Heilen mit Pflanzen, eine der wesentlichsten Grundlagen der Heilkunst. In unseren Tagen sind solche Behandlungen gegenüber der Therapie mit synthetischen Medikamenten nahezu bedeutungslos geworden. Zu Recht?
Allmächtigkeit naturwissenschaftlicher Medizin?
Das heutige Verständnis im naturwissenschaftlichen Sinne unterstellt der Pflanzenheilkunde allenfalls unterstützende Möglichkeiten zur Behandlung verschiedener Krankheiten eher »harmloser« Art. Therapien, die zwar angewendet werden könnten, es würde aber wahrscheinlich auch keinen
Unterschied machen, wenn darauf verzichtet würde. Schließlich bieten schulmedizinische Verfahren effiziente Therapiemöglichkeiten, die vollkommen ausreichend sind, nicht wahr? Im Zuge der starken Entwicklung naturwissenschaftlicher Medizin ist das tatsächlich ENORME Potenzial echter Heilpflanzenkunde nahezu in Vergessenheit geraten. Ein Hauptgrund für diese Entwicklung dürfte eben auch die Annahme sein, dass vor dem Hintergrund moderner Schulmedizin die naturheilkundlichen Verfahren, zu denen vor allem auch die Phytotherapie zählt, nicht mehr benötigt würden.
Der medizinische Alltag sieht jedoch anders aus. Betrachtet man die chemisch-synthetische Pharmakologie genauer, dann fällt schnell auf, dass die Möglichkeiten, echte Hilfeleistung in verschiedenen Krankheitsfällen zu leisten, bei Weitem nicht so erschöpfend sind, wie man sich das vielleicht gerne wünschen würde. Das Beispiel der »grippalen Infekte« mag das etwas verdeutlichen. Naturwissenschaftliche Behandlungsmöglichkeiten erschöpfen sich hier sehr schnell. Die Gabe von schmerz- und entzündungsstillenden Mitteln, solchen wie Acetylsalicylsäure (ASS, der Wirkstoff des berühmten Aspirin) oder Paracetamol, ist ein Standard. Zur Linderung von Hustenbeschwerden kann ein schleimlösendes Medikament vom Acetylcystein-Typ (ACC) empfohlen werden. In hartnäckigen Fällen kommt möglicherweise die Verschreibung von Codein-Präparaten in Frage, um trockene, nächtlich quälende Hustenanfälle zu betäuben. Antibiotika werden immer noch reichhaltig verschrieben, wenn auch nicht mehr so exzessiv, als dies vielleicht vor zehn oder zwanzig Jahren noch der Fall war. Hier muss man sich aber im Klaren sein, dass der typische »grippale Infekt« durch verschiedene Virentypen ausgelöst wird. Gegen die können Antibiotika nicht wirken. So ist eine Hilfe hier allenfalls gegen bakterielle Superinfektionen zu erwarten, die sich im Verlauf viraler Erkrankungen häufig aufpfropfen.
All diese Medikamente haben eine ganze Reihe verschiedener bekannter Nebenwirkungen - und wahrscheinlich noch mal einen Rattenschwanz eher nicht bekannter unerwünschter Wirkungen, die sich vor allem langfristig negativ bemerkbar machen könnten. Fast alle diese Medikamente wirken zum Beispiel immunsuppresiv. Die Unterdrückung körpereigener Abwehr- und Heilungsreaktionen ist ein erklärtes »Behandlungs«ziel. Das ist es, was die Patienten nach Einnahme solcher Medikamente vordergründig besser fühlen lässt - wenn das überhaupt der Fall ist. Nach meiner persönlichen Meinung gilt das - die Unterdrückung körpereigener immunologischer Abwehr- und Heilungsprozesse - nicht nur für den Akutfall und eine darauf folgende etwa kurze Zeitspanne. Im Gegenteil gehe ich hier von durchaus denkbaren langfristigen immunologischen Regulationsstörungen aus. Probleme, die sich gegebenenfalls auch Jahre später bemerkbar machen können.
Hilfe aus dem Pflanzenreich!
Moderne Phytotherapie bietet im Gegenzug gleich eine ganze Reihe verschiedenster Heilpflanzen, denen Wirksamkeit bei den typischeren grippalen Beschwerden nachgesagt wird. Es gibt Kräuter, die als auswurffördernde Mittel bei mit Husten einhergehenden Erkrankungen verschrieben werden können. Andere sind hilfreich zur Linderung trockener Reizhustenzustände oder haben krampflösende Effekte. Obendrein zeigen viele dieser Heilpflanzen nicht nur milde antibiotische, sondern sogar tatsächlich antivirale Effekte.
Selbst schmerz- und fieberlindernde Phänomene können mit einigen Phytotherapeutika vermittelt werden. Schließlich waren es tatsächlich Heilpflanzen, die die Blaupause für den synthetisierten Wirkstoff Acetylsalicylsäure durch ihre natürliche Wirkstoffkombination geliefert haben. Ein wesentlicher Vorteil bei sogenannten banalen grippalen Infekten soll hier nicht verschwiegen werden: Im Gegensatz zu den herkömmlichen Möglichkeiten darf hier sogar tatsächlich mit einer immunförderlichen Wirkung gerechnet werden.
Nach meiner Meinung werden diese hochinteressanten Möglichkeiten in der Krankenversorgung heut zu Tage viel zu wenig genutzt. Das ist nicht verwunderlich, denn die meisten Ärzte wissen heute kaum noch, diese althergebrachten Behandlungsmöglichkeiten zu würdigen. Sie sind weder Teil ihrer universitären Lehrpläne, noch werden sie anderweitig ausreichend beachtet. Die Kunst des klassischen ärztlichen Rezeptes, das ungebundene Erstellen einer freien heilkundlichen Verschreibung mit Heilpflanzen, wird kaum noch beherrscht. Die Phytotherapie wird - teils von Ärzten wie medizinischen Laien gleichermaßen - oft genug milde belächelt, manchmal sogar verspottet. Hinter diesen scheinbar »wissenschaftlich begründeten« Fehlannahmen steckt nach meiner Überzeugung in Wahrheit lediglich Unwissenheit.
Einige wenige Ärzte haben jedoch das tatsächliche Potenzial der Heilpflanzen erkannt und versuchen, dies in ihren Praxisalltag zu integrieren. Des Weiteren gibt es zum Glück den Berufsstand des Heilpraktikers, der traditionell auch ein Bewahrer und Weiterentwickler der Naturheilkunde, und damit natürlich auch der Pflanzenheilkunde, ist.
Was ist traditionelle Pflanzenheilkunde?
Moderne Naturwissenschaft hat es ermöglicht, eine wesentliche Komponente der Heilpflanzen zu erkennen: Deren Wirkstoffe werden aus dieser Sicht für Heilwirkungen verantwortlich gemacht. Neben den botanischen Merkmalen sollten Phytotherapeuten ein ausgeprägtes Wissen über diese chemisch-biologischen Eigenschaften der von ihnen verwendeten Heilpflanzen erwerben. Dosierung, Indikationen und Kontraindikationen, verschiedene Zubereitungsarten und Darreichungsformen, all das muss auf herkömmlichen Wegen erlernt und für die Praxis sicher beherrscht werden. Zum Erwerb des medizinischen Grundwissens sowie des phytopharmakologischen Spezialwissens ist das klassische Literaturstudium unabdingbar.
Aus Sicht traditioneller Heilkunde ist es damit jedoch nicht getan. Um über Heilpflanzen zu lernen, muss der Therapeut sie über den absolutistisch reduktionistischen Intellekt hinaus als lebende Wesen begreifen und erfahren. Er muss sie erleben, erspüren, ihnen mit den Sinnen folgen. Das meditative Erfahren der Heilpflanze, am besten in ihrer natürlichen Umgebung, da draußen in der Wildnis, ist die andere, gleichsam philosophische und spirituelle Seite der Pflanzenheilkunde. Intuition, Inspiration und Signaturenlehre sind hier mindestens gleichberechtigte und notwendige Werkzeuge, jenseits des rein analytischen Verstandes und der Einprägung von Wirkstoffkombinationen und Indikationsspektren. So forderte schon Professor Rudolf Fritz Weiß, der große Pionier moderner Phytotherapie, dass die Heilpflanze jenseits reiner Analytik dem Arzt zu einem vertrauten Freund und Begleiter werden müsse.
Diese Art Medizin speisst sich konsequent aus einem seit Jahrhunderten bestehenden Strom ganzheitlicher Heilkunde. Aus dieser Sicht sind Pflanzen nicht nur reine Materie. Sie sind darüber hinaus beseelte Wesen, deren Medizinkraft ihren Ursprung in den geistigen Sphären der Wirklichkeit hat. Diese Geisthaftigkeit drückt sich physikalisch aus im Pflanzenkörper, in Wuchs, Gestalt und Farbgebung, in Standort und Jahresrhythmus, und selbst in der jeweils so charakteristischen Wirkstoffkombination. Pflanzen sind lebendige Wesen! Und es ist Aufgabe des echten Phytotherapeuten, diese Wesenhaftigkeit zu erkennen und zu erfahren, sich mit ihr zu verbinden und so die Heilpflanze als ein Ganzes zu begreifen, welches machtvolle Heilwirkungen entfalten kann, wenn sie fachgerecht und rationell eingesetzt wird.
Im schamanischen Denken indigener Kulturen steht die Wesenhaftigkeit der Pflanzen gar im Mittelpunkt. Teil der Ausbildung schamanischer Kräuterheiler ist in manchen Regionen Mittel- und Südamerikas etwa der Erwerb von »Tsentsaks«, sogenannter pflanzlicher Hilfs- oder »Pfeil«geister. Diese werden in schamanischer Vision entdeckt: Der Schamane nimmt im veränderten Bewusstseinszustand Kontakt mit dem Geist einer Heilpflanze auf und versucht, sich mit diesem Spirit auf unmittelbarer Geistebene zu verbinden. Die Form eines solchen Geistwesens kann ihm als Spinne oder Insekt, als Vogel, Schmetterling, Schlange und dergleichen erscheinen. Wenn solche Schamanen Patienten behandeln, dann können sie im veränderten Bewusstseinszustand ihrer Trance eventuell den »Geist einer Krankheit« im Körper des Patienten erkennen. Sie suchen dann im Arsenal ihrer pflanzlichen Hilfsgeister nach einem, der dem aufgespürten Krankheitsgeist möglichst ähnlich sieht.
Mit anderen Worten: Sie suchen nach dem Spirit einer ihnen bekannten Heilpflanze, die wesensgemäß möglichst dem entdeckten Krankheitsgeist entspricht. Dieser Pflanzengeist wird für die nun folgende Behandlung - das Entfernen oder »Extrahieren« aus dem Körper des Patienten - eingesetzt. Hier wird also die spirituelle Komponente der Pflanze in den Vordergrund gestellt. Jahrelange Erfahrung der Heiler erschließt ihnen natürlich ein beträchtliches Spektrum an in der Tat auch erfahrungsheilkundlichem Pflanzenwissen, so dass diese Heiler später auch ohne schamanisches Ritualsetting Heilpflanzen für ihre Patienten verordnen können. Die Grundlage des Lernens über die Pflanze ist hier dennoch die schamanische Begabung und die direkte Kontaktaufnahme mit den Pflanzengeistern. Indigene Heiler nähern sich vor allem von der intuitiven und visionären Ebene her ihren zukünftigen Pflanzenverbündeten an. Das so gewonnene Wissen wird ergänzt durch die Lehren der erfahrenen, älteren Heiler und die im Laufe der Jahre zunehmende eigene Praxiserfahrung im Umgang mit diesen Pflanzen.
Auch die echte ganzheitliche Pflanzenheilkunde des Westens ist bei genauer Betrachtung grundsätzlich schamanistisch verwurzelt. Denn auch hier spielt die eigene unmittelbare Wahrnehmung, das Gespür, die Intuition und Vision im unmittelbaren, persönlichen Umgang mit den Pflanzen die wesentlich grundlegende Rolle. Das so gewonnene Erfahrungswissen wird durch die Hinzuziehung moderner wissenschaftlicher Erkenntnisse keineswegs geschmälert. Die beiden Wege ergänzen sich und sind Teil eines einzelnen, großen Kontinuums: Das ist die echte, traditionelle Heilpflanzenkunde, wie ich sie verstehe. Und dieserart kann sie sich zu einem mächtigen therapeutischen Werkzeug entwickeln, welches je nach Schwere des Krankheitsbildes tatsächlich auch mal federführend, oder wenigstens dann auch adjuvant, also unterstützend, eingesetzt werden kann und sollte. Die große Bedeutung der Heilpflanzen, auch und gerade im Zeitalter sogenannter moderner Medizin, wurde von Professor Weiß mit folgendem Satz in seinem »Lehrbuch der Phytotherapie« beschrieben: »Zuerst das Wort, dann die Pflanze, dann das Synthetikum, zuletzt das Messer«. In einer Zeit zunehmender Therapieresistenzen, Dauermedikationen, zunehmender chronischer Krankheiten, Allergien etc. würde es uns allen sicher gut tun, sich diese schwerwiegende Aussage eines Arztes mit beseeltem Sachverstand zu Herzen zu nehmen und danach zu handeln.
Literatur (Auszug)
- Prof. Dr. med. R. F. Weiß, Prof. Dr. med. V. Fintelmann: »Lehrbuch der Phytotherapie«, 10. Auflage, Hippokrates Verlag
- M. Pahlow: »Das große Buch der Heilpflanzen«, 5. Auflage, Gräfe und Unzer Verlag
- S. Fischer-Rizzi: »Medizin der Erde«, 3. Auflage, AT Verlag
- W. D. Storl: zahlreiche Arbeiten, z.B. »Kräuterkunde«
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